Kürzlich habe ich auf meiner Pinwand in Facebook einfach mal behauptet, der Stuttgarter OB-Kandidat Turner wolle eine Demo-Maut von 6,10 € einführen. Kann man ja mal dreist behaupten – Behaupten ist ja schrecklich en vogue, zumindest was Turners eigenen Wahlkampf angeht. Ein Kommentator meiner Behauptung mochte die Idee, er forderte die Maut für „Demonstranten welche sich im Geschäft krank melden ohne Grund und keine echte Meinung zu dem Thema der Demonstration haben!!!“. Da wir unsere plutokratische Grundordnung vor Bürgerwillkür schützen müssen, plädiere ich für die Schaffung der Demokratie-Maut!
Infoblätter auf Demos: € 12,30 pro aufgelistetem Fakt. Haltlose und erlogene Fakten sind von der Maut befreit.
Wahlkampf-Maut: € 610,– pro Behauptung. Hanebüchene Behauptungen sind um bis zu 80% reduziert. Instrumentalisierte Kinder geben 30% Rabatt. Verwendung lokaler Backwarenspezialitäten auf Werbemitteln: 20% Rabatt.
Die Freistellung von der Maut für wirtschaftsrelevante Kandidaten ist ja wohl selbstverständlich!
€12,80 Sozialromantiker-, Öko-Spinner- und Gutmenschen-Maut
Sinnlose Forderungen wie Brandschutzkonzepte, Baugenehmigungen, Einhaltung von Kostenrahmen werden mit € 6.100,– Fortschrittsfeindlichkeits-Maut belegt.
€ 61,– Bürgerbeteiligungs-Maut
Wahlmaut: je weiter unten das Kreuzchen, desto teurer wird’s
Vor dem Stuttgarter Rathaus drängen sich die Leute. Ein Meer aus Plakaten und Protestschildern flutet den Marktplatz. Vor der dort aufgerichteten Bühne sitzen im abgesperrten Bereich Mitglieder der altkonservativen Parteien und warten. Plötzlich dröhnen wilde Rhythmen über den Platz, ein Konzert aus Trillerpfeifen und Gebrüll versucht dagegen anzustinken, als sich die Menge teilt und der „Star“ des Nachmittags in schwerem Geleit durch die Menge zur Bühne schreitet: Mutti kommt! Angela Merkel unterstützt den parteilosen OB-Kandidaten Sebastian Turner in seinem Wahlkampf. Wie die Prognosen stehen, droht die erste Landeshauptstadt in die Hand eines Grünen zu fallen, und dass nachdem sie schon den Ministerpräsidenten stellen. Aus CDU-Sicht ein Gau, bei dem Mutti persönlich eingreifen muss. Es fängt an, wie aus Eimern zu schütten, Schirme verdecken jegliche Sicht auf die Bühne, als jemand anfängt zu reden. Um mich herum wird gelärmt (Lügenpack! Lügenpack!), sodass ich auch nicht hören kann, wer da was von sich gibt. Die Stimmung ist verbittert und aggressiv, die letzten Nachrichten über den Bau des Erdbahnhofs sind Thema vieler Plakat: Zugentgleisungen und ein nicht erfülltes Brandschutzkonzept, was seit der Schlichtung eigentlich niemanden überraschen sollte.
Ich suche einen besseren Platz um zu verstehen, was da vorne passiert. Turner hat das Mikrophon ergriffen und redet mit lauter Stimme gegen den Lärm an. Nach dem üblichen Geschwalle über die Wichtigkeit der Bildung als Zukunftsweg, die wohl jeder Kandidat in seinem Programm stehen hat, aber trotzdem keiner in die Hand nimmt, schießt er sich auf Kuhn ein, dem er unterstellt, mit der Citymaut dem Bürger an die Freiheit und an’s Portemonnaie zu gehen. Eins ist klar: Sein Wahlkampf hat den Namen Kampf verdient. Er baut auf die Furcht der Leute, ein Grüner würde Stuttgarts Wirtschaft und somit Wohlstand und Arbeitsplätze ruinieren und die Freiheit der Bürger eindosen. Wahlkämpfe, bei denen Furcht vor den anderen geschürt wird, sind mir zuwider.
Merkel übernimmt. Ihre etwas leisere Stimme geht wieder im Lärm unter, ich verstehe bruchstückhaft etwas von Zukunftstauglichkeit, Bahnprojekt, Wirtschaft und so. Am Ende erklingt die deutsche Nationalhymne, um zu unterstreichen, dass sich hier niemand geringeres als DIE Bundeskanzlerin für Turner ausgesprochen hat. Ende der Veranstaltung. Die einen packen ihre Transparente ein, die anderen empören sich über die Schande für Stuttgart, die Kanzlerin in dieser Form empfangen zu haben.
Für Turner scheint es ein gelungener Tag. Das Schreckgespenst der renitenten Wutbürger, die die Zukunft der Stadt sabotieren wollen, hat sich selbst an die Wand gemalt. Die Medien berichten über die Protestbewegung, die nicht bereit ist zuzuhören und ihrer Wut freien Lauf lässt. Das bringt die Stimmen jener, die von der Protestkultur die Nase voll haben.
„Der haben wir gezeigt, dass sie in Stuttgart nicht willkommen ist!“, sagt ein anderer Marktplatzbesucher zu mir. Ich frage mich, was das bringt? Ausgebuht werden gehört zum täglichen Programm in ihrer Position. Müssen wir ihr (oder vielleicht auch uns selbst) vor Augen führen, dass es immer noch Demonstranten in Stuttgart gibt? Wenn es etwas gibt, was sie wirklich trifft, dann ist es das Wahlergebnis von Turner, der kaum Aussichten hat, die grüne Gefahr zu bannen.
Mir war von vornherein klar, dass es sich viele nicht entgehen lassen, der Kanzlerin mal persönlich die – bestimmt durchaus berechtigte – Wut ins Gesicht zu brüllen, doch denke ich dabei auch an das Bild, dass wir Bahnhofsgegner dabei abgegeben haben. Es ist absolut okay, eine miese Rede mit Buh-Rufen statt Beifall zu quittieren, aber man sollte schon dem zuhören, was man verurteilt. Diesen Respekt sollte man auch seinem politischen Gegner zollen. Wie können wir die mangelnde Dialogbereitschaft der Regierung anprangern, wenn wir selbst alles niederbrüllen? Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn die Sympathien der Bevölkerung für die Protestbewegung durch solches Verhalten weiter schwinden. Das wollte Turner, und das hat ihm sein Publikum willfährig erfüllt. Der „Widerstand“ darf sich nicht unfreiwillig zum Wahlhelfer Turners machen. Auch wenn es verdammt gut tun mag, mal die Sau raus zu lassen. Protest ist kein Selbstzweck, er sollte einer Sache dienen. In diesem Fall hat er Turner gedient.
Kurzer Einwurf: Ich möchte mal darauf hinweisen, dass das dort geballte Wutbürgertum nicht repräsentativ für alle Bahnhofsgegner und Turner-Kritiker steht, auch wenn die Medien dieses Bild zeichnen werden.
Mir hätte es besser gefallen, hätten Turner und Merkel in Ruhe ihre Reden halten können. In seine Angriffe auf Kuhn wirkt Turner unsouverän. Wer wirklich was auf dem Kasten hat, muss sich nicht über das Abwerten anderer positionieren. Sein aggressiver Wahlkampfstil schreckt mich ab. Dass er jetzt den Bahnhofsstreit für seinen Wahlkampf instrumentalisiert (gegen grüne Verschleppung und Mehrkosten …), widerspricht seiner Ansage, den „Krieg“ in der Stadt beenden zu wollen. Noch besser hätte mir gefallen, Frau Merkel hätte allein vor den geladenen Gästen geredet und der Platz wäre ansonsten leer gewesen.
Am Sonntag in einer Woche wird Stuttgart zeigen, ob sein Wahlkampf aufgegangen sein wird. Insgesamt war die Veranstaltung so hässlich wie das Wetter, für Muttis Gäste wie für die Protestbewegung.
Der Wahlkampf um den Oberbürgermeisterposten in Stuttgart geht in die heiße Phase! Die einen wollen Sebastian Turner verhindern, die anderen Fritz Kuhn. Nicht nur die Kanzlerin schlägt sich jetzt auf die Seite des Berliner Werbers, sondern auch „Mausi“, so behauptet es jedenfalls die Facebook-Seite „Koin Kuhn“, die sich der politischen Argumentation gegen die grüne Gefahr verschrieben hat. Hier noch ein paar Beispiele, die vor Augen führen, was die „Initiative gegen einen grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn in Stuttgart.“ zum politischen Diskurs beiträgt.
„Wir brauchen in Stuttgart keinen grünen Verbotsmeister als OB, der alles verzögert, überall klagt, überall klugscheißt. Infrastrukturprojekte ausbremst oder verhindert. Bewahren des Status Quo durch die subtile Sandstreumechanik der Grünen, die alles verlangsamen und KOSTEN produzieren, die allen nach dem Mund reden nur nicht den wirklichen Zukunftschancen Gehör verschaffen. Den anderen immer den moralischen Zeigefinger vor die Nase strecken, und sich an der gedeihlichen Entwicklung Stuttgarts vergehen. Das alles schafft Grün. Da sind sie sehr erfolgreich. Deshalb KOIN KUHN!“„Mobilität und Autofahren a la Fritz Kuhn… Das MUSS verhindert werden! KOIN KUHN!“
Was sagen wohl die Kandidaten zu solch wahlkämpferischen Kolateralschäden? Turner überlegt zu klagen, so behauptet er in Bild. Er übersieht dabei vielleicht, dass eben diese Werbung seine Gegner diffamiert. Als Werbeprofi würde ich mich über diese ungewollte Unterstützung freuen. Als Hannes würde mein Gesicht die Haarfarbe annehmen. Zum Glück muss ich kein Wahlkampf machen! Wenngleich: Mich würde mal interessieren, mit welchen Argumenten ich verhindert werden sollte …
„Grundeis ist das sich auf dem Grund fließender Gewässer bildende Eis. Es wächst von der Gewässersohle aus in das Wasser hinein und bildet mitunter bizarre Unterwasser-Skulpturen.“ (Wikipedia). Des weiteren gehen dort gern Ärsche drauf. Insbesondere jener der Oldschool-Konservativen, die im Süden Deutschlands schlimmstenfalls mal mit den Sozen koalieren mussten.
Bürgerlich, christlich und konservativ können auch andere: MP Kretschmann erfüllt, was die CDU versprochen und Mappus in die Tonne getreten hat. Um das neue Bürgertum zurückzugewinnen, wurde der parteilose Werber Turner ins Rennen geschickt, der mit rommelscher Weltoffenheit den Krieg um Stuttgart 21 beenden will. Brezelbackend und kinderkuschelnd flutet er die Stadt mit Plakaten. Über 500 Wahlkampftermine bestreitet der Bürger, der Bürgermeister werden will, um den GAU zu verhindern: Nach dem Landtag auch das Rathaus an die Öko-Konservativen zu verlieren. Auch die Totalverbrezelung der Plakatwände half ihm nicht, im ersten Wahlgang die Mehrheit zu holen. Da Bettina Wilhelm das Handtuch geschmissen hat, muss Turner ordentlich Gas geben. Seine Hoffnung: Bei 46,7% Wahlbeteiligung ist noch Luft nach oben für den zweiten Wahlgang am 21. Oktober.
Zu Hilfe eilt die Mutti der Nation: Die Kanzlerin kommt! Am Freitag auf den Marktplatz. Und macht somit den Wahlkampf zur Chefsache. Der Vorsitzende der baden-württembergischen CDU, Thomas Strobl, malt schon mal seinen persönlichen Teufel an die Wand: „Mit einem Grünen in der Villa Reitzenstein und einem Grünen als Oberbürgermeister im Stuttgarter Rathaus stirbt ‚Stuttgart 21’“. Das könnte man auch als Abwahl-Versprechen verstehen. Die Einführung der City-Maut und Grundsteuererhöhung sind weitere Schreckgespenste, die die Grünen längst als „blanken Unsinn“ enttarnt haben. Mal schauen, ob Kuhn alle Autos kompostiert, den Daimler in eine Biogasanlage transformiert und alle Schulen zu Baumschulen umwandelt.
Apropos Furcht und Schrecken: Was mir viel mehr Angst einjagt, sind all die schönen Bauprojekte, bei denen noch mehr leerstehende Bürogebäude für ein fortschrittliches Stadtbild sorgen sollen. Die sind für jene, die sie abschreiben, sicher recht wirtschaftlich. Neue Einkaufszentren ermöglichen tageslichtfreies Shopping für jene Yuppiezombies, die sich die Mieten in den neugeschaffenen Vierteln leisten können. Wirtschaftsnähe mag im Industriegebiet fein sein, die Stadt gehört ihren Bürgern.
Die deutlichste Duftmarke des Angstschweißes rieche ich bei der CDU, die mit Stuttgart den Kern der drittgrößten Metropolregion Deutschlands verliert, und dass nicht an den Altrivalen SPD, sondern an die Grünen, die ihnen auf bürgerlichem Terrain die Wähler abluchsen. Auf dem Land mögen Kirche und CDU noch unangefochten herrschen, aber die Städte vergrünen zunehmend. Kein Wunder, dass Mutti persönlich erscheint, doch das hat bei Mappus schon nicht geholfen.
Gesichter blicken mit gewollt vertrauenserweckendem Blick von Plakaten auf die Straßen der Stadt und sagen mir: Wähl mich! In Ermangelung des längst überfälligen Virtuellenwahlrecht kann ich dem Wunsch nicht Folge leisten, interessiere mich aber trotzdem dafür, wer in den nächsten acht Jahren meiner Heimatstadt Stuttgart als Oberbürgermeister dient.
Der berechtigten Angst vor dem Politikerverdruss der Wähler geschuldet sind diesmal ein Haufen parteilose Kandidaten im Rennen. Für die Fortschritt-ist-wenn-der-Bagger-rollt-Fraktion (CDU, FDP, Freie Wähler) lässt sich der parteilose Werbefritze Sebastian Turner aufstellen, ebenso parteilos ist Bettina Wilhelm, die für die SPD antritt. Mit Fritz Kuhn trauen sich die Grünen, einen aus den eigenen Reihen zu nominieren. Ein Haufen weiterer Kandidaten treibt das olympische Prinzip auf den Wahlzettel. Das ist auch gut so: Demokratie lebt von Vielfalt. Motive dafür gibt’s einige zwischen Idealismus, Profilierungssucht und Albernheit.
Lohnt es sich überhaupt jemanden zu wählen, der oder die eh keine Chance auf das Amt hat? Ist eine Stimme für Rockenbauch verschwendet, wenn es gilt, Turner zu stoppen? Wählt man strategisch oder nach besten Wissen und Gewissen? Darüber streiten sich viele, aber ich sage mal einfach: Scheiß der Hund drauf! Wenn Turner im ersten Wahlgang 50% erreicht, kümmert keinen, wie die anderen abschneiden. Weder Kuhn noch Wilhelm werden meines Erachtens im ersten Anlauf die Mehrheit erreichen. Wenn keiner die Mehrheit beim ersten Mal erreicht, kommt es zum zweiten Wahlgang. Also wäre es auch egal, ob die Piraten ein paar Stimmen erobert hätten oder nicht. Die Debatte, ob man sich beim ersten Wahlgang idealistisch oder pragmatisch verhält scheint mir einigermaßen sinnlos. Es sei denn, man glaubt, Kuhn könne die 50%-Hürde nehmen. Wer also Jens Loewe oder Marion Furtwängler mag, sollte sie auch wählen. Vorausgesetzt, sie bekommen genügend Unterstützerunterschriften, um überhaupt teilnehmen zu können. Einige der weniger bekannten Kandidaten brauchen noch Unterschriften. Wer sich also wie ich über Vielfalt freut, sollte sie unterstützen.
Interessant wird’s erst in der zweiten Runde. Turner hat automatisch gewonnen, wenn sich die anderen auf keinen Gegenkandidaten einigen können, sei es aus Eitelkeit oder Größenwahn. Ob Kuhn, Wilhelm oder Rockenbauch bereit dazu sind, den Platz für jemand anderes zu räumen, ist offen, aber auch zu hoffen! Dazu könnte es natürlich sinnvoll sein, wenn Platz 2 recht eindeutig ausfällt, was wieder gegen die kleinen Kandidaten spricht. Doch das ist mir zu viel Rumtaktiererei, es lebe die Vielfalt!
PS:
Mein persönlicher Tipp für alle, die mit ihrer Unterschrift für Vielfalt sorgen wollen: Jens Loewe. Er ist S21-Gegner aus Leidenschaft, setzt sich für den Rückkauf und die Rekommunalisierung der Strom-, Wasser- und Gasversorgung der Stadt ein und ist für mehr Bürgerbeteiligung. Ich bin nicht in allen Punkten mit seiner Meinung konform, halte ihn aber für einen Idealisten, der sich nicht für eine Politkarriere profilieren will. Ausserdem hat er „Unser Pavillon“ stark unterstützt, was mir natürlich gefällt! Ein Pavillonist als OB wäre ein schöner Gedanke, aber er sollte zumindest dabei sein, denn das ist bekanntlich alles.
Ein weiterer Kandidat, der zwar schon alle Unterschriften hat, aber trotzdem interessant ist: Wolfram Bernhardt. „Wolfram ist keine Partei. Wolfram ist das Volk. Stuttgart braucht Wolfram.“ steht auf seiner Facebookseite geschrieben. Klingt selbstbewusst, und das ist auch gut so. Wir wollen schließlich keinen Waschlappen als OB. Bernhardt ist Mitbegründer der Bürgerbeteiligungsplattform Meisterbuerger.orgund ein recht schlauer Kopf. Wenn man ihn auch nicht wählen will, ist er ein interessanter Bursche, den man sich mal anschauen soll. Des weiteren arbeitet Bernhardt auch für Agora 42, einem sehr schlauen Magazin über Wirtschaft, Geld und so. (Ich wollte schon des längeren mal dieses Magazin hier vorstellen, hab’s aber noch nicht hingekriegt. Tschuldigung!)